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Als ich damals gerade mit meiner Yoga-Ausbildung fertig war, fragte mich ein lieber Freund sehr direkt: „Sag mal, lernt man im Yoga wirklich das Sterben?“ Ich war perplex. Und irritiert. Denn damals dachte ich, es sei viel zu hart, zu direkt und viel zu konkret ausgedrückt, was Yoga uns lehrt. Heute, acht Jahre später, nachdem mir diese Frage gestellt wurde, möchte ich direkter antworten und sagen: Ja, genau das bringt uns Yoga bei. Das ultimative Loslassen. Hier ein demütiger Versuch, sich diesem Thema zu nähern.

Der Tod und das Leben

Diese Thematik ist sicherlich das Grundlegendste und Bedeutendste eines jeden menschlichen Lebens. Und ganz bestimmt kann ich nicht in wenigen Worten innerhalb eines relativ kurzen Blog-Artikels alles erwähnen und präzise genug formulieren, um nur ansatzweise diesem Thema gerecht zu werden.

Deshalb möchte ich mich aufgrund meiner Unzulänglichkeit an dieser Stelle schon zurücknehmen und versuchen, mich ganz leise und demütig diesem wichtigen Aspekt unseres Lebens zuwenden.

Der Tod gehört unweigerlich zum Leben dazu. Er ist vielleicht das letzte und tiefste Geheimnis der Menschheit. Und unbeeindruckt davon, ob wir wohlhabend oder arm sind: er wird uns eines Tages begegnen. Es ist das Ende des uns bekannten Lebensweges hier auf Erden. Und dieser gilt wohl für uns alle. Egal welcher Kultur, Lebensphilosophie oder Religion wir angehören – wir müssen sterben. Manche glauben an die Unsterblichkeit der Seele, andere an die Wiedergeburt – oder an beides. Wiederrum andere sind davon überzeugt, dass das menschliche Leben ohne spirituelle Dimension vergeht.

Alle Ansichten, Glaubensäusserungen und Denkmöglichkeiten zu beschreiben, wäre nicht möglich und ist auch nicht Sinn dieses Artikels. Ich selbst bin Christin, möchte mich aber auch diesbezüglicher Glaubensaspekte und Hoffnungen zurückhalten, um den Text möglichst vielen Menschen möglichst neutral zur Verfügung zu stellen.

Ich bin trotz alledem der Meinung, dass nur derjenige (diejenige) das Leben verstehen kann, der (die) den Tod als irdische Realität anerkannt hat.

Wenn wir dann zum Beispiel an uns oder an anderen realisieren, wie zerbrechlich menschliches Leben sein kann, dann beginnen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit, es anders zu betrachten und anders zu würdigen.

Veronika beschliesst zu sterben

Das Buch „Veronika beschliesst zu sterben“ vom berühmten Autor Paulo Coelho handelt von einer sehr jungen Frau namens Veronika, die ihre Zukunft ohne lohnende Perspektive empfindet und sich deshalb das Leben nehmen möchte. Der Versuch schlägt aber fehl und sie wacht in einer Klinik auf. Der sie dort behandelnde Arzt sagt ihr, dass ihr Herz durch ihren Selbstmordversuch irreversibel geschädigt wurde und sie ganz sicher in den nächsten Tagen bis Wochen daran sterben wird.

Dies versetzt die junge Frau nun doch in hohe Anspannung. Tag für Tag lernt sie das Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten und sogar als kostbar zu erachten. Sie verliebt sich ganz neu in das Leben und hat nun wirklich Angst, es zu verlieren. Zu guter Letzt verliebt sie sich in einen jungen Mann, mit dem sie eigentlich ihr Leben teilen möchte. Bei einem gemeinsamen Ausflug schläft sie dann ein und ihr Freund glaubt sie tot. Doch sie hat nur geschlafen und wacht wieder auf.

Am Ende des Buches erklärt der Arzt, dass er die Herzschädigung nur erfunden hat, um ihr die Kostbarkeit und Einmaligkeit ihres Lebens zu zeigen, damit sie nicht erneut versucht, sich da Leben zu nehmen. Happy End also. Veronika beschliesst wieder zu leben, nochmal ganz neu anzufangen. Sie bekommt diese Chance.

Andere Menschen merken eventuell die Kostbarkeit ihres Lebens erst, wenn sie wirklich sehr krank sind und vielleicht dann keine so guten Aussichten mehr auf eine Heilung haben. Nicht jeder hat die Chance wie Veronika, noch mal neu anzufangen.

Doch auch wenn wir nicht krank sind, können wir jeden Morgen aufs neue beschliessen zu leben und uns daran zu erfreuen, denn wir wissen nicht, wann es für uns Zeit ist zu gehen.

Wir können uns hier und jetzt klarmachen, dass wir womöglich nur hundertprozentig lebendig leben können, wenn wir uns das Sterben vor Augen halten. Nicht mit Angst, nicht auf dem Boden des Schreckens, sondern in Anerkennung des Todes als Tatsache.

Yoga und das Sterben

Was bedeutet nun der Tod und das Sterben, wenn man beides im Yoga-Kontext anschaut? Wie hilft uns Yoga, den Tod vielleicht besser zu verstehen? Und vielleicht sogar eines Tages besser gehen zu können?

Auch hier möchte ich in aller Demut sprechen. Denn ich kann natürlich NICHT aus praktischer Erfahrung sprechen. Es sind vielmehr Beobachtungen und Rückschlüsse und vielleicht auch ein Stückchen Hoffnung, ein bisschen besser vorbereitet zu sein auf das, was uns alle eines Tages widerfahren wird.

Sterben werden wir vermutlich jeder für sich. Die allerletzten Schritte müssen wir allein gehen. Auch wenn liebe Verwandte und Freunde uns begleiten mögen: Das letzte Loslassen liegt dann an uns. Um Loslassen zu können ist es gut, Frieden zu suchen und zu finden – mit uns selbst, mit anderen und mit unserem Leben. Letzte Aussprachen, Vergebungen, Ein Verzeihen-können. Abschied-nehmen. Ein ultimatives Ausatmen nach einem langen Einatmen.

Yoga bietet uns die Möglichkeit an, das Loslassen und das Ausatmen zu üben. Wir lernen Körper, Geist und Seele in ihrer Verwobenheit kennen. Wir können einen unruhigen und verängstigten Geist besänftigen. Ein verkrampfter, angespannter Körper lernt sich zu entspannen. Und was vielleicht das Wichtigste ist: wir kommen mit uns selbst in Kontakt. Wir spüren uns. Wir lernen uns in verschiedensten Facetten kennen. Ich persönlich lernte durch Yoga, Schmerz zwar nicht vollständig weg zu atmen, ihn aber deutlich abzumildern und mit ihm arbeiten zu können – egal ob es sich dabei um seelischen oder körperlichen Schmerz handelte. Es entsteht Akzeptanz und Gelassenheit in Situationen, die wir nicht (unmittelbar) ändern können.

Und nicht nur das. Wie Veronika können auch wir Wertschätzung des Lebens lernen und sie vertiefen. Unser fantastischer Körper und die Atmung. Das dazugehörige Wunder und die Frage: wer oder was atmet mich eigentlich?

Shavasana – Totenhaltung

Wenn wir uns die Übung anschauen, die praktisch am Ende einer jeden Yoga-Stunde steht, finden wir den Tod sogar ganz konkret. Im Sanskrit heisst die Haltung der End-Entspannung Shavasana. Ins Deutsche übersetzt heisst dies so viel wie: Toten- oder Leichenhaltung. Der Körper liegt dabei ganz ruhig und quasi bewegungslos auf dem Boden.

Nur sanfte Atemzüge bewegen ihn. Atemzug um Atemzug lassen wir Körperanspannung los, lassen unsere Gedanken los, lassen so viel wie möglich los. Mit etwas Übung kommen wir dann in Kontakt mit der uns alle innewohnenden Stille. Diese Stille ist immer da, egal wie turbulent unser Leben da draussen ist. Sie ist unser Refugium, unser Rückzugsort. Hier finden wir Frieden und vielleicht sogar ein Stück Unendlichkeit beziehungsweise Unbegrenztheit.

Meistern werden wir das Sterben und den Tod natürlich erst, wenn beides uns unausweichlich begegnet, aber indem wir durch Yoga all die oben beschriebenen Schritte einüben, wage ich zumindest zu hoffen, ein bewussteres Leben führen zu können. Solange bis mein Heimgang ansteht. Ich übe also gewissermassen das Sterben, um richtig leben zu können.

Ich wünsche allen Menschen Frieden im eigenen Herzen. Ich wünsche mir, dass wir uns zu Lebzeiten aneinander erfreuen können, um dann am Ende eines Weges auch Lebewohl sagen zu können.

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Dieser Text ist für all die Leidenden, die Sterbenden, die Toten und deren Angehörige.
Ich verneige mich vor euch und dem Leben. Namasté.

Scarlett Krause

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